void (1–4)


›THE VOID (2/4)‹

"That you are suffering so comes from your own actions;
it is not due to anybody else.
it is by your own actions.
The good spirit born with you,
will come now and count out your good deeds with white pebbles,
and the evil spirit born with you,
will come now and count out your evil deeds with black pebbles.
Then you will be frightened, awed and terrified. Then the Lord of Death will place round your neck a rope and drag you along;
he will cut off your head, extract your heart, pull out your guts,
lick up your brain, eat your flesh, and gnaw your bones,
but you will not die.
Although your body be hacked to pieces, it will live again.
and cause great pain and torture.
But be not frightened and terrified,
and fear not the Lord of Death.
Your body is the nature of emptiness,
you need not be afraid.
Emptiness cannot injure emptiness.
That is the emptiness of your true nature,
before which your mind shines clearly and lucidly,
and at which you feel awe,
emptiness by nature luminous,
luminous light inseparable from emptiness."

— The Tibetan Book of The Dead


Das Ausstellungsprojekt ›THE VOID (2/4)‹ beschreibt die zweite Etappe eines bizarr anmutenden Zufalls: Eine heruntergeladene HD-Version der extrahierten BluRay-Datei des Films ›Enter The Void‹ von Gaspar Noé [1] war der Ursprung einer zunächst digitalen Metamorphose. Durch die erneute Konvertierung dieser Filmdatei in ein DVD/CD-R Master Image (für das spätere Brennen als reguläre DVD gedacht), kam an einer bestimmten Stelle des Films ein überraschendes Phänomen zum Vorschein. [2]

Scheinbar (im sprichtwörtlichen Sinn als "Erscheinung" gemeint) – und mittels Bild und Tonspur direkt nachvollziehbar – führte eine unbekannte Ursache dazu, daß anstelle der im Film gezeigten Nachtodesszene mit langem Schwarzbild davor, diese vollkommen durch ein einziges Standbild (der letzte Blick des Protagonisten vor seinem Tod) und einem pulsierenden Tonarrangement ersetzt wurde.

Im Rahmen der Ausstellung ›INTIMATE‹ [3] können selbst angefertigte Hefte des ›Tibetanischen Totenbuches‹ [4] in Englischer Sprache gegen eine Spende mitgenommen werden. Der Erlös wird den Betreibern der Plattform gespendet. Die Besucher können während der Öffnungszeiten an einem Schreibtisch im Büro der Galerie mit einem bereitgestellten (und für dieses Projekt von ehemaligen Arbeitsdokumenten der Galerie bereinigten) Computer das Projekt erfahren, dort arbeiten und Einsicht in die Recherchematerialien nehmen. Nicht zufällig ist die Installation eine symmetrische Spiegelung der realen Arbeitssituation der Galerie (Tisch, Stühle, iMac, Dokumente); Sie symbolisiert auch die permanente Möglichkeit der Besucher, in die sonst hermetischen Galerieräume völlig barierefrei einzudringen und dort — so wie es der "zufällige virale Fehler" in der Videodatei auch tat — aus dem Inneren heraus zu wirken.

Anstelle einer Bewertung in Form eines einzigen Betrages und der Versuchung, mit dem Erlös etwas "Soziales", "Humanitäres" oder generell "Gutes" damit zu unterstützen, fiel die alternative Entscheidung, für einen wiederrum selbstreferenziellen Gestus. Ein bestimmter Betrag ist nicht vorgesehen; er addiert sich systematisch aus einzelnen Teilstücken, die den Exenplaren des booklets verhältnismäßig entsprechen. [5]

Die Plattform piratebay ermöglichte die Entstehung der gesamten Arbeit ›VOID (1–4)‹ und wird durch sie selbst mittels Wiederrückführung des Projektes (in Form von finanziellen Werten) legimitiert und in ihrer Autonomie selbstbestärkt.

Nach Ausstellungsende wird das Projekt als torrent–Datei erneut mittels piratebay zugänglich gemacht und nach der ersten vollständigen Kopie wieder gelöscht.

›THE VOID (2/4)‹ thematisiert durch den performativen Kreislauf den Umgang mit geistigem Eigentum, stellt die Frage nach Individualität/Identität, Konntrollverlust, Regeln der Kreativität und Reproduzierbarkeit von Werten – allgemein gesprochen. Im besten Fall erzwingen diese Ausgangsbedingungen eine jeweils individuelle Haltung zu und eine Reflexion über die Bedingungen zeitgenössischer Zirkulation kultureller Werte.

Irgendwie entscheidet man doch immer moralisch und bewertet unentwegt, oder? Bloß was sind die relevanten Faktoren dafür? Persönliche Gier, die ungehinderte Möglichkeit der shier unbegrenzten Duplikation, juristische Beschränkungen einer partikulär durch lobby–Arbeit geprägten Gesellschaft? Grenzenloses Interesse an Kulturgütern? Egomanische Bereicherung? Die Freiheit der Kunst?

 

 

Der Film ›Enter The Void‹ von Gaspar Noé thematisiert unmissverständlich und direkt das Sterben eines einzelnen Menschen vor dem Hintergrund spriritueller und psychedelischer Erfahrungen. Dabei stehen das ›Tibetanische Totenbuch‹ und Themen tantrischer Buddhismen im Mittelpunkt dieser fast dreistündigen filmischen Reise.

Der erste Teil des Films besteht aus einer ca. 25-minütigen Plansequenz in Echtzeit, die aus der Egoperspektive eines jungen Mannes gezeigt wird. Nach dessen Tod löst sich die Kamera vom Standpunkt des Protagonisten, trennt sich von dessen liegendem Körper und schwebt mühe- und grenzenlos über den verbliebenen Freunden, über der nächtlichen Stadt, der zurückgelassenen, ehemals selbstverständlich beheimatetet Welt. Das passiert bisher in ›Enter the Void‹ und ist Teil seines plots und hier beginnt der eigentliche Teil des Spielfilms.

Doch in dem konkreten Fall der Dateikonvertierung wurde der zweite Teil des Films durch etwas Unerwartetes und Unkontrolliertes ersetzt: Exakt genau ab dem Zeitpunkt des Todes, verharrt das Filmbild in fast gänzlicher Schwärze [6] und wird von einer meditativen und suggestiven Audiospur weiterbegleitet, die mantraartig letzte Tonfetzen und Geräusche kontinuierlich miteinander verwebt. Auch im wirklichen Film gibt es schwarze Bilder an genau dieser Stelle, doch diese sind symbolisch und als narratives Element eingesetzt.

Was können die Ursachen dafür sein, daß Fehler an einer bestimmten Stelle einer Kettenbeziehung für uns inhaltliche Aussagen treffen? Wie kann es sein, daß das Sterben des Protagonisten durch eine "Verweigerung" des tragenden/transportierenden Mediums ersetzt, überlagert wird?

Ist es lediglich ein Fehler, kausal entstanden durch die einzigartige digitale Zusammenstellung eines einzelnen Computers und seiner gegenwärtigen Komponenten? Ein profundes Spiel, welches sich der Regisseur von ›Enter The Void‹ selbst in diesem Zusammenhang gönnt? Ein Zufall, welcher in einem anderen Film an derselben Stelle inhaltlich völlig irrelevant wäre? Ein genialer Kopierschutz? [7] Ist es gar ein selbst provoziertes Produkt schlechten Karmas, eine selbsterfüllende Projektion des users vor dem Bildschirm? Ein geheimer, eso–/exoterischer Code eines sich verweigernden oder gar selbstreflexiven Programms?

Genauso wie der zenrale Begriff der Leere/des Nichts (shunyata) buddhistische Gedanken traditionell kreisen läßt (um was eigentlich?), lassen es die Überlegungen zu der Bedeutung dieses irreproduzierbaren Phänomens – verankert in eine völlig alltägliche Situation – auch.

Themenkomplexe wie individuelle Autonomie, die Befreiung von Illusionen, (Selbst–)Auslöschung, der bedingungslosen Loslösung von jedweder Haftung, der Freiheit zur absoluten und selbstreferenziellen Negation (Leere der Leere) — dies sind nicht nur zentrale buddhistische Begriffe, sie haben darüberhinaus allgemeingültige Relevanz. Nicht nur fußen traditionell philosophische Schulen darauf, gesellschaftliche Systeme oder mehr oder weniger abstrakte Gedankenexperimente in Form von Kunst, Literatur und Film — auch jedes einzelne fühlende oder denkende Individuum/Lebewesen sieht sich mit einer solchen Fragestellung konfrontiert. Mal finden diese Reflexionen ganz bewußt statt, mal sind sie unkontrollierte Reaktionen spontaner (Lebens–)Ereignisse, ein anderes Mal schlummern sie ein Leben lang tief im Unbewußtsein.

Für manche ist die Einsicht in die Unbeständigkeit der Dinge keineswegs der bequemen Illusion eines eigens selbstbestimmten Lebens und der Frage nach der Essenz, dem Wesen der eigenen Persönlichkeit vorzuziehen. Selbst im Falle einer temporären Auflösung als sicher katalogisierter Werte (etwa als Konsequenz rationaler Überlegungen, psychedelischer Erfahrungen oder Sinnkrisen z.B.) werden diese Einsichten wieder verzerrt und an einen quasi in der Unendlichkeit verorteten Punkt verschoben: das Sterben, der Tod, die unabwendbare Auslöschung dessen was uns ausmacht wird verdrängt. Entscheidungen werden verschoben, ja selbst die Erleuchtung wird stets in der Zukunft verankert.

Daß komplexe Systeme autonom agieren und sich einer bewußten Kontrolle entziehen, spiegelt sich nicht nur in alltäglichen Ausnahmeerscheinungen wider, die rechnerische Notwendigkeit der Emergenz hielt auch in die moderne Wissenschaft einzug: Chaostheorie, Quantenphysik, fuzzy–logic, der Übergang von unbelebter Materie zu dem Zustand, der als organisches Leben bezeichnet wird.

Nicht mehr vollständig nachvollziehbare Kausalketten zeigen sich auch im Verlauf des Gesamtprojektes ›VOID (1—4)‹: nicht nur bleibt es den Entscheidungen der Besucher selbst überlassen, wie sie die Installation wahrnehmen, welches Bild sie sich von den Zusammenhängen machen, sie können auch potenziell das gesamte Projekt manipulieren oder direkt vor Ort löschen. Kein Besucher und keine Besucherin wird die exakt gleiche Situation vorfinden, denn die individuellen Handlungen und Entscheidungen der Vorgänger ist das Fundament dieser persönlichen Wahrnehmung. Daß das Leben sich (s)einen Weg bahnt, blind und ohne vordefiniertes Ziel latente Möglichkeiten manifestiert, kann auch in der Geneaologie des Projektes abgelesen werden. Obwohl das Konzept mehr oder weniger strengen formalen Regeln folgt und quasi auf die provozierte Selbstauslöschung hinstrebt, hat es sich selbst aus diesen Rahmenbedingungen herausgelöst: der USB–stick mit dem die Daten von einem physischen Ort (das Zuhause) zu einem anderem (der Ausstellungsraum) transportiert wurden, ging auf der Rückreise verloren. Insofern ist das Projekt implizit bereits gescheitert, denn irgendwo — unlokalisierbar und für potenzielle Archäologen auswertbar — befinden sich die gesamten Daten in einem Schwebezustand, in limbo.


›THE VOID (2/4)‹ ist eine aus dem Spielfilm ›Enter The Void‹ hervorgegangene installative Präsentation eines zufälligen Phänomens und den zugehörigen Recherchematerialien/Skizzen welche von den Besuchern größtenteils mitgenommen werden können.

›THE VOID (2/4)‹ wird während der Ausstellungszeit vom 22.06 bis 20.07.2013 in der Galerie EIGENT+ART in Leipzig einsehbar sein; nach einer bestimmten Zeit wird das Projekt zu einer Torrentdatei gebündelt und auf thepiratebay.sx hochgestellt. Sobald die erste vollständige Kopie davon gemacht wurde, wird die Datei auf dem lokalen Computer gelöscht und alle verbleibenden Dokumente vernichtet — digital gesprochen: mit Nullen überschrieben.


[1] ›Enter the Void‹. Regie: Gaspar Noé. Drehbuch von Gaspar Noé unter Mitwirkung von Lucile Hadzihalilovic. Dolby Digital, Farbe, 2.35:1, 161 Min., IFC Films 2009.

[2] Bis Min. 26:56 läuft der Film regulär ab, zwischen 26:56 bis 55:10 steht ein einziges fast schwarzes Bild und wird durch die Audiospur begleitet, ab 55:10 bricht die Audiospur ab und das Standbild bleibt stumm. Ab 55:10 ist ein Vorspulen nicht mehr möglich, d.h. ein Sprung an jede beliebige Stelle danach führt dazu, daß der DVD-player nicht mehr reagiert.

[3] »INTIMATE« (Gruppenausstellung) vom 22. Juni – 20 Juli 2013 in der Galerie EIGEN + ART Leipzig.

[4] ›Das Tibetanische Totenbuch‹. Englische Übersetzung von F. Fremantle & C. Trungpa, Shambhala Publications, Boston und London 2007.

[5] Erlös am 20. Juli 2013, 18:00 Uhr: € 16,90

[6] Eine Spur der rechten Hand ist noch leicht sichtbar.

[7] Ein proprietärer Kopierschutz ist unwahrscheinlich, da die BluRay—Datei nicht ursprünglich von offizieller Stelle vertrieben wurde und bereits eine Konvertierung durch einen piratebay—user stattfand.


Gottfried Binder, Leipzig 21. Juli 2013

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